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Werke für Klavier solo


Dieses kurze Klavierstück wurde 1991 während eines Sommerurlaubs in der Bretagne komponiert. Deshalb habe ich einen französischen Titel gewählt. Das Thema atmet die Simplizität und Leichtigkeit des französischen Lebensgefühls in den Sommermonaten.


Die Melodik des Themas ist pentatonisch angelegt und erlaubt vielfältige Variantenbildungen. Sie basiert außerdem auf einem asymmetrischen rhythmischen Pattern 3 + 2 + 3 , das wie im Jazz alle möglichen Offbeat Zählzeiten auslotet. Dies erlaubt, den Puls und die freie Rhythmik in ein Spannungsverhältnis zu bringen. Die Harmonisierung erfolgt in einer „flotierenden“ Quartenharmonik, die kein eigentliches tonales Zentrum hat, sondern sich auf Quint-Verwandtschaften bezieht. Dabei wandert das Thema durch verschiedene Tonregionen. Das Thema beginnt in C und endet auf D. Solche Freiheiten praktizierte Charles Ives schon vor über 100 Jahren. Die 1. Variation beginnt eine Quinte höher auf G und führt das Thema zunächst kanonisch in eine zweistimmige Polyrhythmik, die in Takt 21 in ein Zwischenspiel mündet, das in Varianten in Takt 26 und 27 wiederauftaucht. Die 2. Variation übernimmt in der linken Hand eine Variante der Grundmelodie und betont das asymmetrische rhythmische Pattern 3/2/5/3/2 durch einen rhythmischen Kontrapunkt in der rechten Hand. Es folgen immer neue, rhythmische Ausleuchtung des Themas, die sich zu perkussiven Exkursen steigern. Mit der 3. Variation quasi recitativo kehrt wieder Ruhe ein, die in eine fluide 32tel Figur mündet. Die dabei entstehende dichte zweistimmige Klangstruktur erzeugt sich permanent verändernde Klangkontexte,  in die das Thema hineingelegt wird. Nach einem Epilog erreicht das Stück mit abstrakt expressiven Akkorden in Takt 65 seinen Höhepunkt und klingt mit der 4. Variation in Form einer Coda aus. Hier wird das Thema zunächst in Clustern und dann in „close  harmony“ geführt und mündet in einer elegischen Ausdeutung der stark verlangsamten zweiten Melodiehälfte, die von einem farbigen Harmonie-spektrum unterlegt wird und sich kontinuierlich ins Dunkle hinabbewegt: wie die untergehende Sonne an einem kühlen Sommertag in der Bretagne

 


Am 29. Januar 1996 brannte Venedigs berühmtes Opernhaus La Fenice ab. Dieses Opernhaus gehört zu den ältesten der Welt. Hier wurde die Gattung Oper erfunden und wegweisende Opern von Rossini und Verdi uraufgeführt. Kurz nach der Bekanntgabe des Unglücks entschloss sich der Pianist und gebürtige Venezianer Brenno Ambrosini ein Benefizkonzert zugunsten von La Fenice zu geben. Seine Idee war es, eine Reihe von zeitgenössischen Komponistinnen? und Komponisten zu beauftragen, kurze ca. dreiminütige Stücke für dieses Konzert zu komponieren. Brenno kontaktierte mich im gleich Januar 1996 und ich lieferte das Stück wenige Woche später ab. Während des Venezianischen Karnevals Anfang Februar trafen wir uns zu den ersten Proben in Venedig.

Es erschien mir wenig opportun, bei einem Klavier Solostück einen Bezug zur Venezianischen Oper herzustellen, aber der Titel Toccatina verweist auf eine der ältesten Formen autonomer Musik für Tasteninstrumente, nämlich der Toccata, die Ende des 16. Jh in Italien entwickelt wurde. Dabei handelt es sich um eine freie Form mit improvisatorischen Passagen, die mit fugato-Abschnitten abwechseln. Im der protestantischen Orgelschule Norddeutschlands wird die Orgeltoccata dann bei Buxtehude und Bach zu einem virtuosen Bravourstück und diesen Charakter habe ich übernommen und modernisiert. Die improvisatorischen Zwischenspiele in Takt 31 – 35 sind idiomatisch vom Jazz abgeleitet und in einen ansonsten polyphonen Satz eingearbeitet, der mit drei sich überlagernden Ostinati arbeitet, die eine Vielfalt von polyrhythmische Strukturen erzeugen. Die Exposition der Toccata beruht auf einem cantus firmus bestehend aus einem dreitönigen Ostinato 

 

 

Darüber wird ein wesentlich schnelleres Ostinato B bestehend aus 16 Sechzehnteln gelegt:

 

             

Es entsteht also das Verhältnis 48/16. Ostinato B braucht drei Zyklen à 16 Sechzehnteln, um Ostinato A auszufüllen. Da aber Ostinato B um ein Sechzehntel verschoben ist, verlaufen die beiden Ostinati permanent asynchron zueinander. Als drittes Element taucht eine Melodie auf, die aus 2 x  11 punktierten Achteln besteht:

 

 

 

Mit diesen drei Elementen wird in 62 Takten ein komplexes polyphones und polyrhythmisches Klavierstück entwickelt, das neben der strengen Polyrhythmik auch virtuose Passagen enthält wie die linke Hand in Takt 39 – 40. Eine eindeutige Klimax wird mit dem fff in Takt 44 erreicht und das Stück klingt mit einem postbarocken 4-stimmigen Choralsatz (T 45 – 48) aus. Nach einer Überleitung endet die Toccatina mit einem Orgelpunkt auf dem tiefen D, der das Ostinato B konsequent auf einem Ton repetiert und von Ostinato A in der linken Hand begleitet wird, während die rechte Hand das Ostinato B in zweistimmigen Doppelgriffen noch einmal in allen Registern erklingen lässt. 

Das Werk wurde 1996 von Brenno Ambrosini uraufgeführt und vom spanischen Radio mitgeschnitten und gesendet